Finanzberatung auf gleicher Augenhöhe

27. Jun 2022

Stellen Sie sich vor, Sie haben für den Abend Gäste eingeladen, wissen aber nicht, was Sie als kleinen Snack anbieten sollen. Ihr Lebensmittelhändler um die Ecke gibt gerne Rat. Neben Salzstangen empfiehlt er französischen Rotwein. Nach einem netten Plausch schließen Sie mit ihm ein Abo über die monatliche Lieferung einer Flasche Bordeaux ab. Dumm nur, dass Ihre Gäste keinen Alkohol trinken. Sie lassen das Abo laufen, auch wenn sich die Zahl der monatlich gelieferten Flaschen pro Jahr erhöht. Da ist zum einen Ihre Trägheit, sich die Bedingungen genau anzuschauen. Zum anderen reden Sie sich die Sache schön: Kann ja eine gute Wertanlage sein. Doch nach zwanzig Jahren stellen Sie fest, dass der vermeintliche Spitzenwein in Ihrem Keller billiger Fusel ist. Der Lebensmittelhändler vertrieb den Wein auf Provisionsbasis und hat sich längst zur Ruhe gesetzt. Nun können Sie den Göttersaft noch für Rotweinkuchen verwenden oder in das Gulasch kippen. Bei Finanzprodukten ist das nicht so einfach. An den Folgen schlechter Verträge haben Sie häufig bis an Ihr Lebensende zu leiden. Und Ihre Erben manchmal noch länger.

 

Großes Kino, kleine Rendite

 

Schlechte Beratung und der Verkauf überteuerter provisionsbasierter Finanzprodukte sind in Deutschland nicht selten. Die Eigeninteressen des Finanzvertriebs sollen bei den Privatkunden seit dem Zweiten Weltkrieg einen Schaden von circa einer Billion (1.000.000.000.000) Euro verursacht haben. Eine legale Praxis, die auch durch die aktuelle Koalition nicht angetastet werden wird.

Wie ist ein solcher „Erfolg“ möglich? Das hat mehrere Gründe: Erstens sind vielen Menschen die Themen Geldanlage, Versicherung und Vorsorge lästig. Das hat nicht nur damit zu tun, dass man seine Wochenenden oder seinen Feierabend angenehmer verbringen kann als mit der finanziellen Zukunftsplanung, sondern auch zweitens damit, dass das Wissen über Geldanlagen bei vielen Menschen eher gering ist. Drittens verspüren die Betroffenen dennoch einen diffusen Handlungsdruck: Negativzinsen, Inflationsraten und Rentenlücke drohen. Die Zeiten, in denen man sein Geld auf das Sparbuch trug, sind vorbei – sagt ja auch die Politik. Und viertens sind die provisionsbasierten Vertriebsabteilungen der Finanzdienstleister gut geschult und allgegenwärtig. Das reicht von der netten Bankangestellten, die in der Filiale einen Bausparvertrag verkauft, über die Blogs der Crash-Propheten mit ihren „krisensicheren“ Fonds bis zu den smarten Krypto-Experten, die im Internet wortreich ihre Coins anpreisen. Beratung und Verkauf sind hier über Provisionsmodelle oft bis zur Ununterscheidbarkeit verschränkt. Wie es im strukturierten Finanzvertrieb mitunter zugehen kann, hat vor wenigen Monaten das ZDF Magazin Royale beleuchtet. Großes Kino, aber nichts für schwache Nerven.

 

Herrn Kaisers teure Kleider

 

Der Öffentlichkeit zeigt sich nur die Spitze des Eisbergs: Wenn der Großmutter eine Lebensversicherung angedreht wird, die Angestellte ihre Ersparnisse mit Lehman-Brothers-Zertifikaten verliert oder wenn einem Jugendlichen die zehnte Rentenversicherung verkauft wird. Unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit fliegen jedoch jene Finanzprodukte, die schlechte Performance mit hohen Provisionen und Verwaltungskosten kombinieren. Von diesen „faulen Eiern“ sind faktisch alle Sparten betroffen, seien es Renten- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, gemanagte Fonds, Zertifikate oder Bausparverträge. Im Zentrum des Problems steht der Vertrieb vieler Finanz- und Vorsorgeprodukte, der oft manipulative Verkaufstechniken gebraucht, um seine Produkte an den Mann und an die Frau zu bringen. Es geht nicht mehr um eine Win-Win-Situation für beide Seiten oder eine finanzielle Entschädigung des Kunden für die Beratungsleistung – wie dies im Idealfall bei einer Honorarberatung der Fall ist. Es geht vielmehr um ein Nutzen-Schaden-Verhältnis, bei dem die Marktrendite durch die Kosten von Vertrieb und Anlageprodukten erheblich reduziert wird.

 

Aufklärung tut in der Finanzberatung not

 

Ein neues Buch will aufklären. Der Psychologe Ulrich Bosetti und der Betriebswirtschaftler Hartmut Walz haben sich zusammengetan, um in der Finanzberatung für gleiche Augenhöhe zu sorgen. Das Buch gliedert sich in zwei größere und einen kleineren Teil: Kapitel A behandelt die Grundlagen des Finanzverkaufs: Weshalb der Begriff „Finanzberatung“ eigentlich meist unzutreffend ist, worin der Unterschied zur Honorarberatung besteht, wie die Mischung von Vertriebsdruck, Informationsvorsprüngen und der Komplexität der Produkte wirkt und weshalb Psychologie – insbesondere die Selbstüberschätzung der Kundinnen und Kunden – im Verkaufsprozess zentral ist.

Kapitel B geht dann ans Eingemachte der Finanzberatung: Verkaufsrhetorik, Heldenverehrung, vorgeschobene Zielkonflikte, Ankern und Köder-Effekt, Up- und Cross-Selling sowie versunkene Kosten – der Werkzeugkasten der „Manipulationstechniken“ ist gut gefüllt. Bosetti und Walz bleiben nicht bei der bloßen Darstellung stehen, sondern zeigen auch die Anwendung. Jedes Kapitel beginnt mit dem Abschnitt „Mitten im Leben“, einem fiktiven, aber illustrativen Beispiel. Da ist zum Beispiel Herr Schmal, der eigentlich einen kostengünstigen ETF wollte, aber mit einem aktiv gemanagten, teuren Fond die Filiale verließ.

 

Der Friedhof der stummen Verlierer

 

Auf das einleitende Beispiel folgen Abschnitte, die den fachlichen Hintergrund vermitteln und die Ansatzpunkte für bestimmte Verkaufstechniken in der Finanzberatung darlegen. Im vorliegenden Fall von Herrn Schmal argumentiert die Beraterin mit dem Survivorship Bias: Die gemanagten Fonds der Hausbank erscheinen im zeitlichen Vergleich über die Jahre gegenüber dem Benchmark deshalb besonders erfolgreich, weil nur noch die „Gewinner-Fonds“ angeboten und im Verkaufsgespräch angepriesen werden. Die ursprünglich auch offerierten „Underperformer“ wurden aus dem Schaufenster genommen und auf dem „Friedhof der stummen Verlierer“ entsorgt. Das sei, so die Autoren drastisch, aber treffend, wie bei vermeintlich begnadeten Chirurgen: Die erfolgreich Operierten berichten glücklich über den Halbgott in Weiß, die Misserfolge werden vergraben.

Nach den analysierenden Abschnitten geben die Autoren den Lesenden dann jeweils Ratschläge an die Hand, wie sie nicht nur die beschrieben Verkaufstechniken erkennen, sondern auch kontern können. Etwa, indem man geschickt Nachfragen stellt, sich nicht unter Zeitdruck setzen lässt, Manipulationsversuche klar als solche benennt und darauf besteht, Entscheidungen wohl zu erwägen. Kapitel C bietet schließlich noch „Umsetzungshilfen für kluge Kunden“ und abschließend „Zehn Goldene Regeln für die Vorbereitung einer Finanzberatung“.

 

Freiheit für die Goldfische

 

Die Beispiele sind gut ausgewählt, der finanztechnische Hintergrund wird klar erklärt und die Darstellung der verschiedenen Verkaufstechniken sorgt für viele Aha-Erlebnisse. Gleichwohl erfordert die Lektüre des Buches eine konzentrierte Erarbeitung der einzelnen Kapitel. Die Materie ist nicht einfach. Hier wie auch sonst im Leben mündiger Bürgerinnen und Bürger gilt aber: Das Denken sollte man nicht anderen überlassen und Verantwortung in der Gestaltung des eigenen Lebens übernehmen. Gerade Studierenden sei das Buch wärmstens empfohlen. Universitäten und Hochschulen sind traditionelle „Jagdgebiete“ von Finanzdienstleistern, die „Goldfischen“ (vielsagender Branchenausdruck für Studierende) „unverbindliche“ Beratungsveranstaltungen anbieten.

Bleibt man an der Lektüre dran, wird man vielfach belohnt – intellektuell und (durch Verlustvermeidung) finanziell: Kein Berater wird den Leser und die Leserin mehr unvorbereitet antreffen und seine Ja-Straßen ungestört pflastern, mit Trigger-Worten locken und die Konjunktivfalle spannen können. Und plötzlich wird man beim Anruf des Bankberaters zur Vereinbarung eines unverbindlichen Beratungstermins so wachsam, als hätte John Cleese in Monty Pythons „Der Sinn des Lebens“ gefragt: „Can we have your liver?“ Nein, Sie müssen sich nicht ausnehmen lassen. Einfach klar und deutlich „Nein“ sagen zu bestimmten Angeboten. Das geht nämlich und ist der einfachste und wirksamste Tipp aus diesem großartigen Buch.

 

Ulrich Bosetti/Hartmut Walz, Beraten statt verraten. So wehren Sie Manipulationen in der Finanzberatung souverän ab, Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt am Main 2022.

 

 

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