Grün statt Grau
Vor allem im Sommer macht es sich bemerkbar: Das wilde Summen der Insekten wird langsam stumm. In der Tat ist die fliegende Insektenmenge in Teilen Deutschlands binnen der letzten 30 Jahre um etwa 75 Prozent zurückgegangen. Zu diesem alarmierenden Ergebnis kam 2017 der Entomologische Verein Krefeld in einer vielzitierten Studie, welche die Entwicklung an über 60 Naturschutzorten mitverfolgte. Was für Insektenstich-Allergiker zunächst nach einer guten Nachricht klingt, hat gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Denn ob man die Insekten nun mag oder nicht: Mit ihnen verschwindet ein wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems: Sie bestäuben Pflanzen, sind Nahrungsgrundlage für andere Tiere, halten die Böden fit und reinigen Gewässer.
Grüne Fassade für mehr Artenvielfalt
Vor allem in Städten gibt es immer weniger Lebensraum für die Tiere. Das Problem wird durch den Klimawandel weiter verschärft, der den Lebenszyklus von Wildbienen oder Hummeln gehörig durcheinanderbringt. Steigt die Temperatur an, treiben Pflanzen früher aus – und sind verblüht, wenn die Wildbienen schlüpfen. „Städte sind komplexe Systeme und ein Anstieg der Durchschnittstemperatur von 1,5 Grad wird extreme Folgen haben“, erklärt Daniel Hof, Senior Teamleiter und Experte für Grünfassaden bei Drees & Sommer. „Das fängt mit dem Effekt der Wärmeinseln an, mit denen der Städtebau ja schon heute stark zu kämpfen hat. Durch die Art und Weise, wie unsere Städte gebaut sind, sprechen wir lokal nicht über einen Temperaturanstieg von 1,5 Grad, sondern von 10 bis 15 Grad.“
Abhilfe schaffen grüne Fassaden. Seit zunehmend Photovoltaikanlagen den Platz auf den Dächern beanspruchen, geraten sie als Zuflucht für Pflanzen und Tiere in den Blick. Außerdem sorgen sie für ein besseres Mikroklima, reinigen die Luft und bieten einen besseren Schallschutz. Wie das funktioniert, zeigt die Grünfassade des nach seiner Adresse benannten Büroneubaus Obere Waldplätze 12, kurz OWP12, bei Drees & Sommer in Stuttgart.
Alles andere als ein Mauerblümchen
Dort erstreckt sich die Grünfassade auf einer Fläche von mehr als 100 Quadratmetern über drei Geschosse mit einer Höhe von 12 Metern. Statt auf ein bodengebundenes, setzt Drees & Sommer auf ein wandgebundenes Vlies-Substrat-System aus zu über 95 Prozent mineralischen Stoffen. Vlies als Material ist wichtig, um im Hochhausbau den strengen Brandschutzanforderungen zu genügen. Die Firma Vertiko, die das Grünkonzept für die neue Büro-Fassade begleitet, hat das System vorab ausgiebig getestet und einen entsprechenden Großbrandversuch durchgeführt.
„Wir setzen bei der Grünfassade auf ein Spezialvlies aus einem Basalt-Glas-Gemisch, das nicht brennbar ist. Die Paneele lassen sich außerdem gut vor fertige Fassaden setzen und sind vergleichsweise leicht“, erklärt OWP12-Projektleiter Thomas Berner von Drees & Sommer. Wegen ihrer positiven Wirkung auf Umwelt und Mikroklima setzen immer mehr Städte auf Förderprogramme, um die Fassadenbegrünung weiter auszubauen: Gemäß einer Erhebung des Bundesverbands GebäudeGrün e.V. stellen in Deutschland bereits 45 Städte über 50.000 Zuschüsse für Fassadenbegrünungen bereit. Künftig ist sogar zu erwarten, dass viele Kommunen die Fassadenbegrünung in Bebauungsplänen festschreiben. „Wir wollen mit unserem Neubau nicht nur mit gutem Beispiel vorangehen, sondern auch mitwirken, die notwendigen Umsetzungsgrundlagen zu entwickeln. Dafür testen wir am eigenen Gebäude, was hierfür zentral ist“, so Berner.
Sind nicht nur Dächer, sondern auch Fassaden begrünt, wirkt sich das insbesondere in unseren Städten positiv auf das Klima der näheren Umgebung sowie die Artenvielfalt aus. Die Immobilie heizt sich weniger auf, Insekten siedeln sich an und die Pflanzenwände filtern Schadstoffe und dämmen Lärm. Ein weiteres Plus: Das Grün schafft eine Wohlfühlatmosphäre.
Mit statt gegen die Natur
Ist sie erst einmal angelegt, braucht die Grünfassade natürlich auch Pflege: „Wir haben robuste und pflegeleichte Pflanzen ausgewählt, da aufgrund der Lage eine tägliche Arbeit an der Fassade zu aufwändig wäre. Es genügt meist eine wöchentliche Sichtkontrolle. Pflanzen- und Tierliebhaber kommen so auch ohne großen Aufwand auf ihre Kosten“, sagt Daniel Hof. Ein heikler Punkt jedweder Art von Fassadenbepflanzung ist die Versorgung des Grüns mit Wasser. Denn hier kommt es auf die richtige Menge und eine standortgerechte Dosierung an. Das Wasser für die Pflanzen an den OWP12 stammt aus einem Regenwasser-Zisternensystem auf dem Dach. Von einem Computer vollautomatisch gesteuert findet es über verschiedene Leitungen seinen Weg in die Pflanztaschen. Das System lässt sich in Echtzeit online überwachen.
Mit zunehmender Begrünung steigt auch die Aufenthaltsqualität für die Menschen in der Stadt, denn als grüne Lunge produzieren Grünfassaden außerdem Sauerstoff und reduzieren Schadstoffe. „Eine grüne Fläche am Gebäude ist nicht nur schön anzusehen. Vielmehr ist sie ein kleines Ökosystem, in dem jedes Lebewesen einen festen Platz hat und zum Fortbestand des Ganzen beiträgt. Das muss man sich als Kreislauf vorstellen“, so Daniel Hof. „Zuerst wurden die Pflanzen angebracht. Die heimischen Insekten beanspruchen diese nun als ihren Lebensraum und dienen wiederum als Bestäuber. Somit sichern beide ihren Fortbestand.“ Um den Insektenbestand in der Grünfassade kümmern sich diverse Vogelarten aus der Region. Sie erhalten nicht nur das ökologische Gleichgewicht aufrecht, sondern nutzen die Begrünung als Rückzugsort und potentiellen Nistplatz.
Quelle: Drees & Sommer
Beitragsbild: Drees & Sommer; Jürgen Pollack