Maschinen das Verstehen lehren

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Aber nur wenige wissen, wie die zugrundeliegenden Modelle funktionieren und welche Perspektiven und Anwendungen sich ergeben. Die Gründer von thingsTHINKING gehören dazu: Sie bringen Maschinen bei, Texte wie ein Mensch zu verstehen. Zeitenvogel sprach mit Sven Körner über semantische Modelle, das Scheitern von Chatbots, Textarbeit in 294 Sprachen und einen Markt von zwei Billionen Euro.

Künstliche Intelligenz

Foto: thingsTHINKING

ZV: Herr Körner, was ist thingsTHINKING?

SK: thingsTHINKING ist eine Ausgründung des Karlsruher Instituts für Technologie. Wir haben dort 14 Jahre im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) geforscht und gezeigt, dass unsere Lösung als Cross-Disziplin von Linguistik, Softwaretechnik und KI funktioniert. Vor anderthalb Jahren entschlossen wir uns, eine eigene Plattform auf die Beine zu stellen und an den Markt zu gehen.

ZV: Womit beschäftigen Sie sich?

SK: Wir beschäftigen uns mit Semantik, also der Bedeutung hinter dem gesprochenen Wort, unabhängig von der jeweiligen Formulierung, im besten Falle auch unabhängig von der verwendeten Sprache. Semantik war bislang Menschen vorbehalten. Man dachte, dass Maschinen viele Phänomene unseres alltäglichen Lebens und unserer Arbeitswelt nicht „verstehen“ können. Wir sind aber der Meinung: Doch, eine Maschine kann das, entweder selbständig oder als leistungsfähiger Helfer der Menschen, als „Gabelstapler“ für das menschliche Gehirn.

 

Der Gewinn der Unschärfe

 

ZV: Wie unterscheidet sich thingsTHINKING von den bisherigen Ansätzen des Maschinenlernens bzw. der KI?

SK: Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Sprache nicht inhärent fassbar ist. Das heißt, Sprache ist nicht immer so einfach, wie wir dies gerne hätten. Das sieht man am Beispiel von Chatbots, die nicht funktionieren: Ein Dialog unter Menschen basiert immer auf gegenseitigem Verständnis. Menschen merken sich nicht die Sequenz der von ihnen verwendeten Worte – das ist das Vorgehen beim klassischen Maschinenlernen. Menschen extrahieren vielmehr die Bedeutung hinter den Worten und setzen diese Bedeutung in Beziehung zu dem, was sie bereits kennen. Das machen Menschen nicht immer richtig, man kann auch missverstehen und missverstanden werden.

Wir haben uns dazu entschieden, diese Unschärfe als Haupt-Asset in thingsTHINKING zu integrieren. So wird unsere Plattform unglaublich robust gegenüber all den Dingen, die für sie noch neu sind. Allerdings kann so auch ein Grad an Unschärfe erreicht werden, bei dem die Maschine keine Entscheidung mehr treffen kann und menschlicher Hilfe bedarf. Wir haben festgestellt, dass dies immer dann der Fall ist, wenn sich auch die menschlichen Experten nicht einig und mehrere Antworten möglich sind. Unsere Plattform ist also nicht besser als ein Mensch, sie ist aber – richtig kalibriert – viel schneller und kann größte Textmengen in kürzester Zeit durcharbeiten.

ZV: Sie benötigen also keine Abermillionen von Datensätzen und Textbeispielen zu Bäumen, sondern thingsTHINKING erkennt, was ein Baum ist?

SK: Ja, genau. Unser System funktioniert auch ohne Training, out-of-the-box. Unsere Plattform verfügt über einen großen Fundus an Weltwissen, also „gesunden Menschenverstand“. Sie versucht sich auf Basis dieses Wissens die Bedeutung eines Textes zu erschließen. Es macht für unsere Plattform dabei keinen Unterschied, ob die Datensätze aus den Bereichen Steuer, Due Diligence oder Mergers & Acquisitions stammen oder ob sie Verträge jeglicher Art sowie Anforderungsdokumente im Bereich Manufactoring bzw. Automotive auswertet. Gewisse Schwierigkeiten bereitet das deutsche Steuerrecht, das wohl an manchen Stellen nicht viel mit dem gesunden Menschenverstand gemeinsam hat (lacht). Da hilft unser inhärentes Weltwissen nicht weiter.

 

Inhärentes Weltwissen

 

ZV: Wie muss man sich dieses inhärente Weltwissen technisch vorstellen?

SK: Wir kombinieren im KI-Bereich symbolische und subsymbolische Systeme. Das heißt, unsere Maschine lernt selbst, wir versuchen aber einzugrenzen, was sie lernt. So weiß die Maschine zum Beispiel auch über Turmspringen Bescheid. Das hilft auf den ersten Blick nur bedingt bei der Auswertung der Daten eines Automobilzulieferers. Denken Sie jetzt aber mal an das Wort „Schraube“, da geht es sicher nicht um Turmspringen. Es ist in diesem Fall besser, mehr zu wissen, um sich die semantischen Zusammenhänge zu erschließen.

Wenn unsere Plattform etwas nicht versteht, dann macht ein bestimmter Satz für sie semantisch keinen Sinn. Das ist von großer Bedeutung für die Entwicklung von digitalen Assistenten, die auf Semantik basieren müssen und nicht auf der Wortwahl. Unser System macht beim Auffinden von bestimmten Passagen im Text zwar auch Fehler, im Schnitt sind das aber nicht mehr Fehler als bei einem Menschen.

ZV: Können Sie Ihre Plattform auch gesondert „anlernen“?

SK: Ja, das „Weltwissen“ unserer Plattform kann auch erweitert werden. Wir haben allerdings die Erfahrung gemacht, dass vollkommen automatisches Lernen problematisch sein kann. So könnte ich Ihnen viele Beispiele nennen, bei denen Entwickler ihre Plattformen einfach „mit dem Internet“ lernen ließen und dies sehr schnell schief ging. Aber auch das Anlernen durch Menschen ist nicht unproblematisch. So kann es in einem großen Betrieb Hunderte von Ingenieuren geben, das Wissen ist aber leider nicht demokratisch verteilt. Das heißt, nur weil 90 Ingenieure sagen, dass etwas richtig ist und das der Maschine beibringen, muss es noch lange nicht richtig sein.

Deshalb lernen wir unsere Plattform nicht gesondert an. Wir lernen aber jeden Tag dazu. Unsere Kunden verstehen, wie unser Modell funktioniert. Sie zeigen uns, welche Anforderungen es in der jeweiligen Branche gibt. So können wir unser Produkt sinnvoll weiterentwickeln.

 

Arbeiten in 294 Sprachen

 

ZV: Welche Sprachen beherrscht thingsTHINKING im Moment?

SK: Out-of-the-box unterstützen wir 294 Sprachen. Sie können ihr zum Beispiel den Befehl geben, eine deutsche Formulierung in einem Ausschreibungstext zu suchen und sie findet diese Formulierung äquivalent in einem englischen, französischen, spanischen, chinesischen oder japanischen Text. Diese Fähigkeit ist für viele international tätige Unternehmen sehr spannend. So können sich interessante Geschäftsbeziehungen aus schwäbischen Ingenieursbetrieben und chinesischen Zulieferern ergeben. Bislang war es nicht einfach, die Übersetzung zufriedenstellend hinzubekommen. Das kann sich mit thingsTHINKING ändern.

Semantik ist allerdings nicht komplett eins zu eins über die Sprachgrenzen hinweg transferierbar. Sprache trägt immer eine Kultur und es gibt immer Interpretationsspielräume. Diese Spielräume wollen wir künftig aber immer weiter verengen.

ZV: KI steht im Moment auch im Fokus der Politik. Wie beurteilen Sie die Lage der Forschung und die Anwendungen dieser Technologie in Deutschland?

SK: In der Forschung haben wir eigentlich gar kein Problem. Das Problem ist eher, dass wir die guten Leute verlieren. Unsere Studenten sind fertig und gehen danach ins Ausland. Ein weiteres Problem ist die Wahrnehmung der KI in Deutschland: Die Berührungsängste sind hierzulande groß. KI ist aber weder gefährlich, noch schlimm. Hier müssen wir weitaus besser informieren und Aufklärungsarbeit leisten. Und noch ein dritter Punkt: KI ist kein Hexenwerk, es ist eigentlich nur Mathematik. Das müssen wir vermitteln und das KI-Thema so entmystifizieren.

Es wird bei weitem nicht jede Dienstleistung durch KI-Systeme ersetzt werden, wie uns das manche Leute weismachen wollen. Viele KI-Geschäftsmodelle haben nicht funktioniert. Vielversprechender ist es, das Wissen der Ingenieure mit dem Wissen um KI-Systeme zusammenzubringen. Heute kennen nur wenige deutsche Unternehmer die Möglichkeiten, KI einzusetzen, weitaus weniger setzen KI dann auch wirklich ein und ganz wenige wissen, wie KI wirklich funktioniert. Dabei ist das doch unser Wettbewerbsvorteil in Deutschland: Bei der Produktion sind wir ja noch die Besten. Das können die großen Digitalunternehmen so noch nicht liefern, da haben sie noch keinen Zugriff. Das ist unsere Chance.

 

KI in Deutschland und China

 

ZV: Welche Bedeutung wird die KI künftig haben?

SK: Wenn wir vor zwei Jahren gesagt haben, dass wir eine KI-Lösung im B2B-Bereich anbieten wollen, hat man uns irritiert angeschaut und belächelt. Wir waren aber davon überzeugt, dass das ein Riesenmarkt ist. Vor kurzem taxierte McKinsey diesen Markt auf über zwei Billionen Euro. Dieser Markt muss aber erschlossen werden.

Alle Unternehmer, die eine Woche im Silicon Valley unterwegs waren, sind geläutert. Waren diese Unternehmen dann anschließend in China unterwegs, sind sie zutiefst schockiert. Wir bekommen das hier nicht mit, aber das Thema KI hat in China eine ganz andere, für Deutschland durchaus bedrohliche Qualität. Wir rühmen uns in Europa, dass wir 15 Milliarden Euro in die KI-Forschung investieren. Die Stadt Shanghai alleine investiert mehr. Bei diesem Missverhältnis werden wir das Rennen nicht gewinnen können. Da müssen wir cleverer rangehen und mehr investieren.

ZV: Vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Dr. Sven Körner

thingsTHINKING GmbH

Haid-und-Neu-Straße 7

76131 Karlsruhe

https://www.thingsthinking.net/

sven@thingsthinking.net

Beitragsbild: thingsTHINKING