Belastungsprobe für die Netzstabilität

Bis 2030 will Deutschland seinen Strom zu mindestens 80% aus erneuerbaren Quellen beziehen. Der fundamentale Umbau der Energieversorgung stellt Netzbetreiber vor große Herausforderungen, unter anderem weil der Ausbau der Übertragungsinfrastruktur nur schleppend vorankommt. Um die Stabilität der Netze weiterhin zu gewährleisten, setzt die TransnetBW, einer der vier nationalen Übertragungsnetzbetreiber, auf innovative Technologie.

In Deutschland ist der Umbau der Energieversorgung in vollem Gang: In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen ungefähr verdoppelt. 2021 wurden knapp 42 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbarer Energie gespeist. Bis 2030 sollen es mindestens 80 Prozent sein, so das erklärte Ziel der Bundesregierung.

Bereits heute ist die Windkraft die wichtigste Stromquelle des Landes – auf sie entfielen 2021 rund 23 Prozent der Erzeugung. Und es soll mehr werden. Im Sommer 2022 hat Deutschland seine Ausbauziele für Photovoltaik (PV) und Onshore-Windkraft noch einmal höhergeschraubt: Bis 2030 sollen insgesamt 215 Gigawatt PV-Kapazität und 115 Gigawatt Onshore-Wind-Kapazität installiert sein.

 

Energiewende schafft neue Rahmenbedingungen

 

Damit verändern sich die Rahmenbedingungen für Deutschlands Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) fundamental: Denn die Produktion von Wind- und Solarstrom schwankt wetterabhängig stark. Je mehr erneuerbare Energie ans Netz angeschlossen ist, desto anspruchsvoller wird es für die Netzbetreiber, die Stromerzeugung zu prognostizieren und in der Balance mit der Nachfrage zu halten.

Und noch etwas kommt hinzu: Große Windkraftwerke entstehen in Deutschland vor allem an der windreichen Nordseeküste. Gebraucht wird der Strom aber auch in den Industriezentren in Süd- und Westdeutschland, wo viele konventionelle Kraftwerke abgeschaltet werden. Das heißt: Immer mehr Strom muss über große Distanzen transportiert werden.

Das führt zunehmend zu Engpässen bei der Stromübertragung, also zu Situationen, in denen die Kapazität des Netzes nicht ausreicht, um den produzierten Strom zu transportieren. „Unsere Netze wurden nicht für einen Nord-Süd-Transport gebaut“, sagt Michael Jesberger, Geschäftsführer der TransnetBW GmbH. Sein Unternehmen ist einer der vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland – und sorgt für Netzstabilität in der Regelzone Baden-Württemberg. „Wir sind schon seit einigen Jahren mit einer Erzeugungsstruktur konfrontiert, die das Netz nicht kann“, so Jesberger.

Und es ist keine Entspannung in Sicht, denn die Stromnachfrage dürfte weiter steigen. Haupttreiber dafür sind die Anstrengungen zur Reduktion der CO2-Emissionen auf Verbraucherseite: Der Umstieg auf Elektromobilität, die zunehmende Verbreitung von Wärmepumpen zur Beheizung von Gebäuden sowie die Elektrifizierung von Industrieprozessen.

Langfristig kann das Problem nur gelöst werden, indem das Netz so weiterentwickelt wird, dass es mit den veränderten Rahmenbedingungen zurechtkommt. Doch das ist mit langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren verbunden. Entsprechend kommt der Netzausbau nur schleppend voran.

 

Teurer Redispatch für Netzstabilität

 

Um trotz der Engpässe im Übertragungsnetz Stromausfälle zu vermeiden, greifen die ÜNB auf den sogenannten Redispatch zurück. Dabei werden Kraftwerke vor dem Netzengpass heruntergefahren, um zum Beispiel die erzeugte Strommenge im norddeutschen Netz zu verringern. Parallel werden Kraftwerke hinter dem Netzengpass hochgefahren, um den erhöhten Strombedarf im Süden zu decken.

Für den Redispatch stellen zum einen Kraftwerksbetreiber täglich entsprechende Kapazitäten zur Verfügung, mit denen sie einspringen können; zum anderen mieten die Netzbetreiber Kraftwerkskapazitäten für außergewöhnliche Situationen langfristig an – die sogenannte Netzreservekapazität.

Dieses Engpassmanagement hat jedoch seinen Preis: Gemäß der Bundesnetzagentur beliefen sich die Redispatch-Kosten im Jahr 2020 auf 1,4 Milliarden Euro. Bezahlt werden diese über die Netzentgelte durch die Verbraucher.

 

Netze besser auslasten

 

Die Netzbetreiber suchen daher nach Möglichkeiten, das Bestandsnetz höher auszulasten. Ein Mittel dafür ist das sogenannte Freileitungsmonitoring, das die TransnetBW eingeführt hat. Dieser Ansatz macht sich zunutze, dass Freileitungen bei Wind und kälteren Umgebungstemperaturen um bis zu 50 Prozent mehr Strom transportieren können.

Um dieses Potenzial auszuschöpfen, misst die TransnetBW Parameter wie Windgeschwindigkeit und Umgebungstemperatur direkt an den Strommasten. Auf Basis dieser Daten wird dann berechnet, wie hoch die Lastflüsse bei den jeweiligen Wetterverhältnissen maximal sein dürfen, damit der Durchhang der Leiterseile weiterhin innerhalb der technischen Vorgaben bleibt.

udem integriert die TransnetBW sogenannte Phasenschieber-Transformatoren in ihr Netz. Diese erlauben es, die Stromflüsse besser zu steuern und gleichmäßiger zu verteilen – was ebenfalls zu einer besseren Netzauslastung beiträgt.

„Durch Maßnahmen wie das Freileitungsmonitoring und die Integration von lastflusssteuernden Elementen können wir einiges an Redispatch-Kosten sparen“, sagt Jesberger. „Das grundsätzliche Problem der Netzengpässe ist dadurch aber nicht gelöst.“

 

Innovative Netzbooster

 

Für die Zukunft erprobt die TransnetBW gemeinsam mit anderen Verteilnetzbetreibern weitere innovative neue Konzepte, um das Bestandsnetz besser auszunutzen. So werden Übertragungsnetze traditionell präventiv geführt. Das heißt, dass die Leistungsflusssituation im Übertragungsnetz prognostiziert wird, um die Betriebssicherheit zu gewährleisten. Dabei werden redundante Betriebsmittel vorgehalten, die nur im Falle eines Netzfehlers zum Einsatz kämen. Mit anderen Worten: Ein Teil der verfügbaren Kapazität ist also für Notfälle reserviert.

Sogenannte Netzbooster sollen es ermöglichen, diese bisher vorgehaltene Reservekapazität künftig auch im Normalbetrieb zu nutzen: Netzbooster sind Batteriespeicher, die an strategisch günstigen Netzknoten platziert werden. Im Falle einer Störung können sie kurzfristig für Entlastung sorgen, bis kurative Maßnahmen wie die Zuschaltung von Kraftwerken hinter dem Engpass, Schaltmaßnahmen oder Einspeisemanagement eingesetzt werden.

„Der Netzbooster ermöglicht uns, die Kapazitätsgrenzen der Leitungen anzuheben und so bei gleichbleibendem Sicherheitsniveau das bestehende Netz insgesamt höher auszulasten“, sagt Jesberger. Zusätzlich wird die TransnetBW 2023 als „besonderes technisches Betriebsmittel“ eine 300-MW-Gasturbine für den kurativen Einsatz in Betrieb nehmen, um eine flexible Ressource zu haben, die hilft das Stromnetz zu stabilisieren.

 

Kooperation in Europa als Schlüssel

 

Mit der steigenden Bedeutung der erneuerbaren Energie verändert sich auch die Rolle der TransnetBW in Europa. „Energieaustausch haben wir in Europa schon seit Jahrzehnten“, sagt Jesberger. Doch dieser Austausch habe sich aufgrund der neuen Herausforderungen intensiviert. Zum einen, weil sich Konzepte wie der Netzbooster nur regelzonenübergreifend realisieren lassen. Zum anderen, weil viel mehr Strom als früher länderübergreifend gehandelt wird. „Die europäischen Übertragungsnetzbetreiber werden immer europäischer“, konstatiert Jesberger.

Ein Beispiel für die intensivierte Zusammenarbeit ist das Projekt „PICASSO“, an dem acht europäische Übertragungsnetzbetreiber beteiligt sind. Das Ziel: Eine Plattform zum gemeinsamen Abruf von Sekundärregelleistung aufzubauen. Gehostet wird die Plattform von der TransnetBW. „Die Notwendigkeit, die Regelenergie übergreifend zu optimieren steigt, sowohl aus technischen wie aus volkswirtschaftlichen Gründen“, sagt Jesberger. Besondere Bedeutung habe das Projekt gerade im Hinblick auf die Gleichstromleitungen (HGÜ) der Zukunft. „Wir brauchen in Europa optimierte Prozesse und Standards, damit die Zusammenarbeit auf allen Ebenen einfacher wird“, sagt Jesberger. 

 

Komplexität steigt – Netzleitsystem muss mithalten

 

Höhere Netzauslastung, größere Schwankungen und mehr Stromtransfer auf der einen Seite, mehr ungeplante Eingriffe, neue Betriebsmittel und mehr Zusammenarbeit mit Netz- und Kraftwerksbetreibern auf der anderen Seite machen das Netzmanagement immer komplexer. Trotz dieser Komplexität einen sicheren Netzbetrieb zu gewährleisten, das ist die Aufgabe der Schaltingenieure in der Hauptschaltleitung Wendlingen. Das Energiemanagementsystem Spectrum Power unterstützt sie dabei.

Um bereit zu sein für die Zukunft, ist hier einiges im Umbruch: „Bisher haben wir unsere Schaltingenieure zu Generalisten ausgebildet“, sagt Jesberger. Nun gehe man dazu über, neue Mitarbeitende spezialisierter auszubilden. Das Netzmanagement sei aber nicht nur fachlich anspruchsvoller geworden. „Der Druck am Schaltpult steigt zunehmend“, so Jesberger. „Wir brauchen gut ausgebildete, nervenstarke und stresserprobte Menschen da drin, die in Extremsituationen das Richtige machen.“

Dabei müssen sich die Schaltingenieure auf ein leistungsfähiges Netzleitsystem verlassen können, das auch künftigen Herausforderungen gewachsen ist. „Wir brauchen ein Netzleitsystem, das modular aufgebaut und zukunftsorientiert ist“, sagt Jesberger. „Es muss in der Lage sein, den Schaltingenieur optimal zu unterstützen.“

Die Herausforderungen, vor denen Übertragungsnetzbetreiber wie die TransnetBW machen es deutlich: Damit die Dekarbonisierung des Energiesystems gelingt, braucht es weit mehr als PV-Anlagen und Windkraftwerke. Die Regulatoren sind gefordert, die nötige Anpassungen der Infrastruktur und den raschen Ausbau der Netze zu ermöglichen. Die Akteure der Energiewirtschaft müssen ihre Zusammenarbeit weiter intensivieren – und von der Industrie werden smarte Lösungen benötigt, mit deren Hilfe sich die wachsende Komplexität der Netze beherrschen lässt.

 

Quelle: Siemens

 

 

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