Der Silberpfeil

Stromlinie

 

Fließende Kurven und geschwungene Flächen aus silberfarbenem Blech umhüllen den W 25 Stromlinienrennwagen im Mercedes-Benz Museum. Fast schon organisch wölben sich die Radläufe vorn und hinten aus dem aerodynamisch optimierten Fahrzeugkörper nach oben. Seitlich sind die Räder bis unter die Naben mit ausgeklügelten Abdeckungen verkleidet, die für Wartungsarbeiten hochgeklappt werden können. Für dieses Einzelstück loten die Mercedes-Benz Ingenieure die damaligen Möglichkeiten von Stromlinienform und Antriebstechnik konsequent aus.

 

Trio

 

Mit gleich drei Stromlinienrennwagen tritt Mercedes-Benz beim formelfreien Internationalen Avus-Rennen am 30. Mai 1937 in Berlin an. Sie sehen sich ähnlich, haben aber technische Unterschiede. Neben dem im Mercedes-Benz Museum gezeigten W 25 Stromlinienrennwagen mit 5,6-Liter-Zwölfzylindermotor MD 25 DAB werden für das Rennen auch zwei Fahrzeuge mit dem 5,7-Liter Achtzylindermotor M 125 F des damals aktuellen Formel-Rennwagens W 125 entwickelt.

 

Dreimal Treppchen

 

Die neuartigen Fahrzeuge sind auf ganzer Linie erfolgreich. Rudolf Caracciola siegt im ersten Vorlauf. Manfred von Brauchitsch gewinnt mit dem im Mercedes-Benz Museum ausgestellten Fahrzeug den zweiten Vorlauf. Und Gesamtsieger beim Hauptrennen wird Hermann Lang. Gegen alle drei hat Richard Seaman keine Chance, er tritt mit einem klassischen Mercedes-Benz W 125 mit freistehenden Rädern an.

 

Technologie

 

Es ist zugleich ein Sieg der Aerodynamik. Denn auf den Geraden erreichen die Fahrzeuge fast 380 km/h. Selbst in der neu erbauten, noch steileren Nordkurve der Avus sind es noch knapp 370 km/h. Zum Vergleich: Die letzte Entwicklungsstufe des W 25 Formel-Rennwagens mit freistehenden Rädern und 4,7-Liter-Achtzylindermotor aus dem Jahr 1936 erreicht rund 300 km/h.

 

Exklusiv

 

Schon herkömmliche Rennwagen entstehen in Handarbeit und kleinster Serie. Die Stromlinienrennwagen sind noch exklusiver. Von Brauchitschs Fahrzeug basiert auf einem W 25 Rekordfahrzeug mit Zwölfzylindermotor, das die Marke mit dem Stern 1936 erfolgreich eingesetzt hat. Eine optimale Ausgangsbasis für das „damals schnellste Rennen der Welt“ auf der Avus. So beschreibt Hermann Lang diesen Wettbewerb. Für das Avus-Rennen wird die Karosserie des Rekordwagens deutlich modifiziert.

 

Klappe

 

Von den Fahrern in den Mercedes-Benz Stromlinienrennwagen ist während des Internationalen Avus-Rennens 1937 nur der Kopf zu sehen. Denn nachdem die Motorsportler im Fahrzeug Platz genommen haben, wird über das Cockpit eine mit zwei Scharnieren an der Front angeschlagene, windschlüpfige Blechabdeckung nach unten geklappt – Schultern und Arme verschwinden. Schutz gegen den Fahrtwind bietet ein aus drei kleinen Scheiben bestehender, auf der Klappe montierter Windabweiser.

 

Blickachse

 

Der Windabweiser erlaubt bei der rasenden Fahrt auch Sicht auf die Strecke. Die ist vor allem in den extremen Steilkurven ein eindrückliches Erlebnis. Hermann Lang schreibt dazu später: „Diese Avus-Nordschleife – eine einzigartige Kurve – richtig zu fahren, war ein Problem und forderte viel Training. Zuerst konnte ich meinen Blick einfach nicht von dem Strich trennen, der die Mittellinie dieser Bahn anzeigt. Später wagte ich dann und wann einen Blick nach der Seite. Sah ich rechts, so hatte ich den seltsamen Eindruck, als würde ich eine senkrechte Wand hinauffahren, sah ich links, so schien ich tief unter mir ein Meer von Gesichtern zu sehen, welche den Innenraum der Kurve ausfüllten.“

 

Wissenschaft

 

Auf die optimierte Aerodynamik der Stromlinienkarosserie geht ein erheblicher Teil des Tempos der Mercedes-Benz Stromlinienrennwagen zurück. Hier können die Ingenieure auch auf Erkenntnisse der Rekordfahrten von 1936 zurückgreifen, für die sie das Fahrzeug unter anderem im Windkanal in Friedrichshafen untersuchen. Über die wichtige Auswirkung vermeintlich unbedeutender Details, wie die verkleideten Räder, schreibt 1936 die „Allgemeine Automobil-Zeitung“: „Das war verpulverte Leistung. Denn der Luftwiderstand der unverkleideten Räder verschluckte dreiviertel der Gesamtleistung.“

 

Wunder

 

Die drei Mercedes-Benz Stromlinienrennwagen dürften beim Avus-Rennen 1937 vielen Fans als besonders futuristische Fahrzeuge erscheinen. Denn in den Grand-Prix-Rennen dieser Ära setzt die Marke ihre Silberpfeile der 750-Kilogramm-Formel noch nicht mit derart aerodynamisch verkleideter Karosserie ein. Das wird erst nahezu zwanzig Jahre später in der Formel 1 mit dem W 196 R geschehen. Dieser Rennwagen mit Stromlinienverkleidung sorgt am 4. Juli 1954 für eine furiose Rückkehr der Marke in den Grand-Prix-Sport mit dem Doppelsieg im Großen Preis von Frankreich in Reims – in Anspielung auf den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft am selben Wochenende heute auch „Wunder von Reims“ genannt. Der W 196 R steht im Mercedes-Benz Museum nur wenige Meter vom W 25 Stromlinienrennwagen entfernt.

 

Ersterfolg

 

Eine gewisse Tradition hat die Aerodynamikinnovation bei dem Rennen 1937 dennoch – insbesondere für Manfred von Brauchitsch. Denn auf dieser Strecke siegt der Rennfahrer fünf Jahre zuvor am 22. Mai 1932 im Avus-Rennen mit einem privaten Mercedes-Benz SSKL, der eine innovative Stromlinienkarosserie des Aerodynamikpioniers Reinhard von Koenig-Fachsenfeld trägt. Dieser Erfolg setzt die Bedeutung einer aerodynamisch gestalteten Karosserie endgültig auf die Agenda der Ingenieure – erst bei Rennwagen und exklusiven Fahrzeugen mit „Autobahnkurier“-Karosserien, später dann auch bei Serienfahrzeugen.

 

Quelle: Mercedes-Benz Group

 

 

Beitragsbild: Internationales Avus-Rennen am 30. Mai 1937. Manfred von Brauchitsch im Mercedes-Benz W 25 Avus-Stromlinienrennwagen mit Zwölfzylindermotor (Startnummer 36). Links dahinter Hermann Lang (Startnummer 37) im Mercedes-Benz Stromlinienrennwagen mit Achtzylindermotor M 125 F. (Fotosignatur der Mercedes-Benz Classic Archive: 27078); Foto: Mercedes-Benz-Group.