Mehrsprachigkeit unter der Lupe

Sprachwissenschaftliche Projekte der Anglistischen Linguistik der Universität Mannheim von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verlängert und erweitert.

Bedenkt man, wie viele unterschiedliche Varianten gesprochener und geschriebener Sprache, wie viele Dialekte und oft sehr unterschiedliche Sprachen Menschen beherrschen, versteht man, warum aus sprachwissenschaftlicher Perspektive gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und keineswegs eine Ausnahme. Zugleich sind Sprachen dynamisch, das heißt sie verändern sich nicht nur von Generation zu Generation, sondern auch im Verlauf des Lebens, zum Beispiel in Folge eines durch Migration oder Flucht bedingten Kontakts mit neuen Sprachen. Die Frage, wie und warum sich in der Kindheit erworbene Erstsprachen (sogenannte „Muttersprachen“) verändern, steht im Zentrum der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe RUEG (Research Unit Emerging Grammars), an der die Universität Mannheim seit 2018 beteiligt ist. Sprecheruniversität ist die Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Untersuchung von Türkisch, Kurdisch, Russisch und Griechisch

 

Erforscht wird, wie sich die Herkunftssprachen Türkisch, Kurdisch, Russisch und Griechisch in zugewanderten Familien in Deutschland und in den USA verändern. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf Sprecherinnen und Sprecher der zweiten Generation, also auf den Kindern der ursprünglich ausgewanderten Eltern. In Mannheim wird zusätzlich untersucht, wie sich in den USA das Deutsche als Minderheitensprache trotz des starken Einflusses des Englischen entwickelt und verändert. Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer der RUEG-Projekte sind neben mehrsprachigen Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland und in den USA einsprachige Vergleichsgruppen in allen Herkunftsländern. In einem standardisierten Verfahren wurden dazu jeweils umfangreiche mündliche und schriftliche Daten erhoben.

 

Die Welt als natürliches Sprachlabor

 

Die DFG hat nun der Verlängerung der Forschungsgruppe um weitere drei Jahre zugestimmt. Für die Universität Mannheim bedeutet dies eine Bewilligung von insgesamt knapp einer Million Euro für drei Teilprojekte. In der neuen Förderperiode sind zwei Mannheimer Sprachwissenschaftlerinnen der Anglistik an der Leitung von Projekten beteiligt: Seniorprofessorin Dr. Rosemarie Tracy und Dr. Mareike Keller. Nachdem in der ersten Projektphase Veränderungen in der Syntax – also der Satzlehre – im Mittelpunkt standen, erforscht das Mannheimer Team nun, wie sich bestimmte Bereiche des Wortschatzes entwickeln. Welche Neuerungen in der Wortbildung zeichnen sich ab? Wie füllen Sprecherinnen und Sprecher bei der Beschreibung von Szenen Lücken in ihrem Wortschatz? „Aus linguistischer Sicht ist die Welt ein natürliches Sprachlabor. Dank moderner Forschungsmethoden und Korpustechnologien können wir immer besser sprach- und länderübergreifend untersuchen, wie sich sprachliche Wissenssysteme unter verschiedenen Bedingungen verändern, welche Innovationen auftreten und welche Bereiche einer Erstsprache sich auch bei nachlassendem Kontakt mit der Sprache der Herkunftsländer als stabil erweisen“, so Tracy.

 

Mehrsprachigkeit als kulturelle Ressource – und kein Hindernis oder Bedrohung

 

In einem weiteren Mannheimer Vorhaben, das neu in die zweite Förderphase aufgenommen wurde, sollen die Erkenntnisse der gesamten RUEG-Gruppe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit fällt das Projekt in den Bereich der gesetzlich verankerten „Dritten Mission“ von Hochschulen, den Wissenstransfer. Dieses Projekt wird in enger Kooperation mit Juniorprofessorin Dr. Judith Purkarthofer von der Universität Duisburg-Essen sowie mit Praxispartnern in Berlin und Baden-Württemberg durchgeführt. Es wendet sich an mehrsprachige Familien und an Lehrende und Tätige in Bildungseinrichtungen. Ziel ist der Abbau von Unsicherheiten innerhalb von Familien und die Aufklärung von Missverständnissen, da Mehrsprachigkeit im Fall zugewanderter Sprachen im Bildungssystem immer noch als Hindernis oder Bedrohung, nicht als kulturelle und wirtschaftliche Ressource gesehen wird.

Entwickelt werden Texte, Grafiken, Videos und Audiomaterial, die zeigen, wie sich Sprachen in der Zeit verändern, ohne dass man daraus auf mangelnde Kompetenzen schließen sollte. Das Material wird auf einer Open-Access-Webseite veröffentlicht und steht damit auch als Anschauungsmaterial für die Lehre und die Weiterqualifikation in Schulen und Universitäten sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung.

 

Quelle: Universität Mannheim

 

 

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