Zeitnahe Webseiten-Analyse ermöglicht effizientes Handeln

Ölkrise, Platzen der Internetblase, Finanz- und Bankenkrise, Corona-Pandemie – ökonomische Schocks der vergangenen fünfzig Jahre mit oft gravierenden Folgen für die Unternehmenslandschaft. Zielgerichtetes staatliches Handeln und Unterstützung dort, wo sie am dringendsten benötigt wird, ist bei solch unerwarteten Ereignissen oft nur mit erheblicher Zeitverzögerung möglich, denn hilfreiche Daten sind zu Beginn einer Krise meist nicht verfügbar. Die KI-basierte Analyse von Unternehmenswebseiten kann hier Abhilfe schaffen, indem sie traditionelle Erhebungsmethoden ergänzt und zeitnah zuverlässige Frühprognosen liefert. Das zeigen Untersuchungen des ZEW Mannheim in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen in der Corona-Krise.

 

Webseiten-Analyse damit die Bazooka im Schrank bleibt

 

Für schnelle Hilfe, wie sie zu Beginn der aktuellen Pandemie notwendig war, sah die Regierung angesichts der mangelnden Datenlage keine andere Alternative als zur viel zitierten „Bazooka“ zu greifen. Die trifft zwar irgendwie, lässt bei der Zielgenauigkeit der eingesetzten finanziellen Ressourcen jedoch zu wünschen übrig. „Um den politischen Entscheidern so früh als möglich wichtige Erst-Informationen an die Hand geben und staatliche Hilfen zielgerichtet steuern zu können, erweist sich die Webseiten-Analyse als äußerst hilfreiches Instrument“, sagt Dr. Georg Licht, Leiter des ZEW-Forschungsbereichs „Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik“.

 

Großer Informationsbedarf und erheblicher Informationsmangel

 

Das Zeitfenster direkt nach einem unerwartet auftretenden wirtschaftlichen Schock ist in der Regel durch großen Informationsbedarf bei gleichzeitig erheblichem Informationsmangel geprägt. Ausgehend von dieser unbefriedigenden Daten-Situation hat ein Wissenschaftlerteam am ZEW gemeinsam mit dem Startup-Unternehmen ISTARI.AI eine auf künstlicher Intelligenz basierende Methodik zur automatisierten Auswertung von Unternehmenswebseiten entwickelt, die mittlerweile auch von anderen Institutionen im europäischen Ausland eingesetzt wird. Mit Hilfe des von istari.ai entwickelten KI-Algorithmus wurden in der Coronakrise wöchentlich über eine Million Unternehmenswebseiten deutscher Firmen nach Nennungen der Coronavirus-Pandemie durchsucht und bewertet. Dabei kann der Algorithmus zuverlässig unterscheiden, ob Unternehmen beispielsweise über Probleme (Schließungen, Absage von Events etc.) oder Anpassungsmaßnahmen (angepasste Öffnungszeiten, Lieferservice etc.) in Zusammenhang mit der Pandemie berichten. So kann frühzeitig in Erfahrung gebracht werden, welche Unternehmen und Wirtschaftssektoren vornehmlich betroffen sind. Die von März bis Mai 2020 durchgeführte Analyse ermöglichte es, ein erstes Lagebild zu den ökonomischen Auswirkungen eines unerwarteten wirtschaftlichen Schocks zu erstellen. Der Vorteil einer dynamischen Datenquelle wie der Webseiten-Analyse ist, dass sie es erlaubt, die Effekte eines ökonomischen Schocks nahezu in Echtzeit zu ermitteln.

 

Künstliche Intelligenz verschafft den Überblick

 

Traditionelle Datenerhebungsformen wie beispielsweise Befragungen bieten diesen „Echtzeitfaktor“ nicht. Dies liegt daran, dass sie lange Vorlaufzeiten für ihre Vorbereitung, Durchführung und Auswertung benötigen. Andere Datenquellen wie etwa Bilanz- oder Bonitätsdaten sind ebenfalls wichtige Indikatoren. Doch auch sie haben den Nachteil, dass sie die Auswirkungen einer Krise erst dann widerspiegeln, wenn der ökonomische Schock seinen vollen Wirkungsgrad bereits erreicht hat und sich dies in der Zahlungsdisziplin und den Unternehmensbilanzen materialisiert.

Gerade in der Coronakrise, in welcher die Politik schnell reagieren musste, gleichzeitig jedoch einem großen Informationsdefizit bezüglich der ökonomischen Auswirkungen der Pandemie gegenüberstand, sind Auswertungen auf Basis des Internets ein wertvolles Instrument zur zielgerichteten Gestaltung von frühen Hilfsmaßnahmen für die Unternehmen. Traditionelle Datenerhebungsformen und Datenquellen haben dagegen den Vorteil, dass sie den Detailgrad eines Schocks differenzierter erfassen können und zudem eine Analyse der tatsächlichen Materialisierung der Auswirkungen erlauben – allerdings mit deutlicher zeitlicher Verzögerung.

 

Rahmenwerk der Krisenbewältigung

 

Zur Verbesserung der Informationslage bei Wirtschaftskrisen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt und um staatliches Handeln im Krisenfall möglichst zielgerichtet und zeitnah in Gang zu bringen und im Krisenverlauf kontinuierlich weiter optimieren zu können, empfehlen die ZEW-Wissenschaftler ein Rahmenwerk von Maßnahmen. Dieses kombiniert unterschiedliche Datenquellen zur Erfassung der ökonomischen Auswirkungen einer Krise. Am Anfang steht die zeitnahe Auswertung einer Vielzahl von Unternehmenswebseiten zur schnellen Verbesserung der Informationslage. Es folgt zu einem nachgelagerten Zeitpunkt die Optimierung und Ergänzung dieser Informationen durch Befragungen ausgewählter Unternehmen, wobei die Erkenntnisse aus der Webseiten-Analyse in die Ausgestaltung der Befragungen einfließen.

„Dass dieses Rahmenwerk zuverlässige Ergebnisse liefert, die prognostische Aussagekraft haben, zeigt ein nachgelagerter Blick auf die Bonitätsdaten der beobachteten Unternehmen“, erklärt Julian Dörr vom ZEW-Projekt Team, das die Untersuchung durchgeführt hat. So weisen die ZEW-Wissenschaftler nach, dass die Ergebnisse der Webanalyse durchaus als Frühindikatoren bezüglich der Bonitätsveränderungen der Unternehmen im späteren Verlauf der Krise dienen können. Informationen aus automatisiert ausgewerteten Web-Massendaten versprechen somit einen relevanten Mehrwert für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger. Insbesondere in dynamischen Krisensituationen kann die KI-basierte Webseiten-Analyse traditionelle Erhebungsmethoden ergänzen und aktuelle sowie zuverlässige Frühprognosen liefern.

 

Künstliche Intelligenz darf keine Blackbox sein

 

Zukünftig wollen die ZEW-Wissenschaftler insbesondere an der Interpretierbarkeit ihrer KI-Modelle arbeiten („Explainable AI“). „In den vergangenen Jahren hat das Bewusstsein zugenommen, dass Systeme der künstlichen Intelligenz in bestimmten Kontexten keine Blackbox sein dürfen. Stattdessen sollen deren Ergebnisse interpretierbar, fair, transparent und nachvollziehbar sein. Gerade vor dem Hintergrund, dass politische Entscheidungen zunehmend auf den Ergebnissen von KI-Modellen beruhen werden, müssen diese Ergebnisse alle diese Kriterien erfüllen“, stellt Dr. Jan Kinne fest, ZEW-Ökonom und Mitgründer des Startup-Unternehmens ISTARI.AI. Es wäre beispielsweise relevant zu wissen, welche Wörter und Wortkombinationen ein besonders hohes Gewicht bei den Vorhersagen haben. Gleichzeitig gibt es allerdings auch Argumente, die für eine Blackbox sprechen, wenn man bedenkt, dass diese schwieriger zu manipulieren ist als ein offenes, vollständig transparentes System.

 

Quelle: ZEW

 

 

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