Der Urbane Datenraum

Foto: Stephan Frenzel

Digitalisierungsprozesse führen dazu, dass Grenzen verschwimmen – zwischen einzelnen Wirtschaftssektoren, aber auch zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Städte müssen im digitalen Zeitalter neu gedacht werden. Zeitenvogel sprach mit Stephan Frenzel (KYBEIDOS) über Datenschutz, den Industrial Dataspace und Urbane Datenräume.

ZV: Herr Frenzel, was ist für Sie Digitalisierung?

SF: Digitalisierung ist aus meiner Sicht schlicht eine neue Kulturtechnik. Sie wird vielfach mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen, was allerdings deutlich zu kurz greift. Denn neben neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verteilung von Informationen umfasst Digitalisierung ja auch neue Techniken der Gewinnung und der Verarbeitung von Informationen. Die Digitalisierung tritt uns aber in zahlreichen, unterschiedlichen Ausprägungen entgegen, denen manche eine vollkommen neue Qualität zusprechen.

ZV: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

SF: Man kann diesen Gedankengang am Beispiel der Künstlichen Intelligenz verdeutlichen: Die einen meinen in Künstlichen Intelligenzen neue Daseinsformen zu erkennen. Die anderen halten Künstliche Intelligenz im Grunde für eine Technik, bei der Informationen mit hoch entwickelten statistischen Methoden auf neue Art und Weise verarbeitet werden um Ähnlichkeiten zu erkennen. Ich bin definitiv ein Verfechter der zweiten Schule: Die Künstliche Intelligenz ist eine Kulturtechnik. Es kommt darauf an, sie transparent und demokratisch zu gestalten.

ZV: Und wenn man Künstliche Intelligenzen doch als eigene Daseinsform ansieht?

SF: Dann hat das schwerwiegende Konsequenzen, über die man sich im Klaren sein muss. Künstliche Intelligenzen agieren ja nicht selbständig und reproduzieren sich nicht aus sich selbst heraus. Sie werden vielmehr von Organisationen, von Unternehmungen, von Staaten hervorgebracht. Wenn man nun Künstliche Intelligenzen zu eigenständigen Daseinsformen erklärt, entzieht man sie der Gestaltungsmacht des demokratischen Prozesses. Meines Erachtens haben die Interessengruppen, die Künstliche Intelligenzen schaffen, auch die sozialen Folgen zu verantworten. Hier muss Transparenz herrschen und der Dialog in einem demokratischen Prozess gepflegt werden.

ZV: Digitalisierung und Datenschutz sind nicht immer einfach zu vereinen. Was sollte Ihrer Meinung nach einen modernen Datenschutz auszeichnen?

SF: Daten- und Informationsaustausch basieren im Normalfall auf einer vertraglichen Grundlage. Das stellt niemand in Abrede. Zu problematisieren ist jedoch die Art des Vertragsschlusses im Internet. Beim Akzeptieren von Checkboxen auf einer Website müsste eigentlich jedem klar sein, dass die Verträge nicht die Interessen beider Vertragsparteien gleichermaßen berücksichtigen. Ein solcher Vertrag bestimmt dann aber, wer welche Daten über welchen Zeitraum zu welchem Zweck nutzen darf. Theoretisch kann der Vertrag auch festlegen, dass meine Informationen für alle Zeit zu jedem beliebigen Zweck genutzt werden dürfen.

Ich fordere deshalb von der Politik, dass jedem einzelnen Bürger ermöglicht wird, den Überblick zu behalten, welche Verträge er eingegangen ist, dass es das Recht und die Möglichkeit gibt, Verträge zu widerrufen und dass strafbewehrt sichergestellt ist, dass die Datennutzung dann beendet wird.

Obwohl die rechtlichen Neuregelungen – etwa mit der Datenschutz-Grundverordnung – in die richtige Richtung gehen, stellt sich die Situation meiner Meinung nach im Moment so dar, dass es gesetzliche Regelungen gibt, die weiter gehen als die Möglichkeiten der Umsetzung. Es gibt also im Moment ein Umsetzungsdefizit. Hier muss von staatlicher Seite unter Hinzuziehung von technologischer Kompetenz daran gearbeitet werden, dass jeder seine Rechte wahrnehmen kann und zwar unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten.

Gelegentlich hört man dann Stimmen, dass wir uns im internationalen Wettbewerb diese hohen Datenschutzstandards nicht leisten können. Letztlich wird hier mit der Angst, im wirtschaftlichen Wettbewerb zurück zu bleiben, operiert. Das ist nicht legitim. Ein gut funktionierendes Datenschutzkonzept, das in Übereinstimmung mit modernen Methoden der Datenverarbeitung steht, kann auch einen Wettbewerbsvorteil darstellen.

ZV: Ein Konzept, das versucht, die Verbindung von Digitalisierung und Datenschutz herzustellen, ist der Industrial Data Space. Können Sie uns erklären, um was es sich dabei handelt?

SF: Der Ursprung des Industrial Data Space ist eng verknüpft mit dem Konzept der „Industrie 4.0“, das im Jahre 2012 formuliert wurde – explizit mit dem Ziel, die nächste industrielle Revolution einzuleiten. Am Beginn der Arbeit am Industrial Data Space stand die Frage, was die mittelständische Industrie daran hindern könnte, das Konzept der „Industrie 4.0“ umzusetzen. Verschiedene Fraunhofer Institute wurden beauftragt, dieser Frage nachzugehen. Man kam relativ rasch zu dem Schluss, dass die Industrieunternehmen schlicht und einfach ihr wertvolles Wissen im Internet nicht ausreichend geschützt sahen. Deshalb sahen sie den unternehmensübergreifenden Datenaustausch, der ja ein wesentliches Element von Industrie 4.0 ist, sehr kritisch.

Um diesen Bedenken zu begegnen, formulierten die Fraunhofer Gesellschaften 2016 ein Whitepaper, in dem ein halbes Dutzend von Kernanforderungen aufgestellt und alle Prozesse, Beziehungen sowie Rollen definiert werden, in die Unternehmen, ihre Kunden und Zulieferer im Kontext der „Industrie 4.0“ eintreten würden. In einer zweiten Phase wurde dieses Konzept dann weiter in Richtung der IT-Implementierungen und der Ausarbeitung einer IT-Architektur konkretisiert. Darüber hinaus begann man mit der Abstimmung des Konzeptes mit internationalen Standards in Amerika und Asien.

ZV: Im Zusammenhang mit dem Begriff des Industrial Data Space werden oft die Begriffe „Datensouveränität“ und „Datenökonomie“ genannt. Was hat es damit auf sich?

SF: Im Kontext der Digitalisierung ändert sich der Stellenwert von Daten. Früher wurden Daten erst am Ende des Produktionsprozesses erhoben, zum Beispiel wieviel Stück eines bestimmten Produktes fehlerfrei produziert wurden. Die Daten hatten statistische oder buchhalterische Funktionen. Im Laufe der Zeit machten die Daten eine Art Evolution durch und sie sind heute die Grundlage für Produktionsprozesse oder sogar das Produkt von Wertschöpfungsprozessen, mit denen gehandelt wird. Hier kommt der Begriff der Datenökonomie ins Spiel.

Viele der wirtschaftlich verwertbaren Daten werden heute durch Dienstleister erhoben und aufgrund eines zuvor geschlossenen Datennutzungsvertrages an Dritte verkauft. Im Nachhinein muss eine Aussage darüber möglich sein, welche Daten über welchen Zeitraum in welcher Detailtiefe durch die Käufer tatsächlich genutzt worden sind um eine einfache Abrechnung zu ermöglichen. Der Datenverkehr muss deshalb strukturiert, detailliert und revisionssicher erfolgen. Diese Eigenschaften hat der Industrial Data Space. Er ermöglicht die Nutzung von Daten gegen Entgelt, fordert aber auch die Datensouveränität, die Verfügungsgewalt über die eigenen Daten.

ZV: Hat also der einzelne Kunde im Industrial Data Space die Möglichkeit, festzulegen, wie lange er wem seine Daten für welchen Zweck bereitstellt?

SF: Ja, genau. Das Thema der Daten, die Gebrauchsgegenstände wie Autos oder Kühlschränke generieren, ist im Moment Gegenstand einer intensiven Diskussion: Wem gehören die Daten? Den Herstellern? Wer darf auch darauf Zugriff haben? Ohne die Daten der Autos werden etwa auch bestimmte Versicherungsmodelle künftig nicht mehr möglich sein.

Ich will das an einem Beispiel veranschaulichen: Mit der nächsten Generation der Automobile werden wir durch den Hersteller zum nächsten freien Parkplatz geleitet, zahlen dafür aber mit unseren Daten, die wiederum für datenbasierte Geschäftsmodelle genutzt werden können. Der Industrial Data Space kann hier nicht nur Transparenz darüber schaffen, für welche Zwecke diese Daten erhoben werden, sondern auch die Möglichkeit bereitstellen, den Nutzungsvertrag zu beenden. So könnte ich als Nutzer des Fahrzeugs auch entscheiden, die Daten, die mein Auto produziert, einem anderen Dienstleister zur Verfügung zu stellen. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, die Daten einem Treuhänder zu übergeben und dem Besitzer des Autos die Möglichkeit einzuräumen, über die Weitergabe und Verwendung der Daten zu entscheiden.

Im Rollenmodell des Data Space sind entsprechende Zertifizierungs- und Clearing-Stellen vorgesehen, das heißt die Treuhänder sind dort bereits als Konzept integriert. Der Data Space ist somit eine Plattform, die mir diese Datensouveränität und die damit verbundene Verfügungsgewalt über meine Daten tatsächlich zurückgibt.

ZV: Muss ein solcher Industrial Data Space auf Basis einer föderalen Infrastruktur aufgebaut werden?

SF: Ja. Das ist schlicht und einfach gar nicht anders machbar. Die Daten eines Datenraums können nicht zentral zusammengeführt werden. Es wird weiterhin Eigentümer von Daten geben, die ihre Daten mit eigenen Infrastrukturen oder auch verteilt, in der Cloud verarbeiten. Entscheidend ist aber, sichere Standards im Datenaustausch zu etablieren, sodass die unterschiedlichen Datenanbieter miteinander in Austausch treten können.

ZV: Der von Ihnen geschilderte Ansatz des Data Space ist aber nicht nur auf Industriedaten anwendbar?

SF: Nein. Ich bin Bürger einer Stadt, die ich sehr schätze und ich habe mir angeschaut, welche Herausforderungen, aber auch welche Perspektiven das Thema „Digitalisierung der Städte“ bietet. Mir ist umgehend bewusst geworden, dass durch die Digitalisierung die Teilsysteme einer Stadt – Industrie, Verkehr, Energieversorgung und Verwaltung – so intensiv miteinander vernetzt werden, dass keine Sektorentrennung mehr möglich sein wird. Die Überschreitung von Grenzen – zwischen einzelnen Unternehmen, aber auch zwischen Sektoren – ist ja gerade das Wesen der Digitalisierung.

Mit anderen Worten: Systeme, die industriellen Standards entsprechen, werden in die urbane Sphäre übernommen und werden dort die Digitalisierung mitprägen. Es ist sehr interessant, sich die positiven und negativen Konsequenzen eines solchen Transferprozesses anzuschauen. Das Thema der Datensouveränität ist zum Beispiel ja nicht nur für Industrieunternehmen, sondern auch uns Bürgern ein großes Anliegen. Dieser Standard kann meines Erachtens auch als Vorlage für den Umgang mit Daten in Verwaltungsprozessen genommen werden.

Bei Kybeidos haben wir vor knapp einem Jahr einen Versuchsballon steigen lassen. Wir haben gesagt: „Lasst uns den Industrial Data Space als einen Urban Data Space denken!“. Auf der Suche nach Kooperationspartnern sind wir auf GeoNet.MRN gestoßen. GeoNet.MRN wird von der Klaus Tschira Stiftung gefördert und hat den Auftrag, eine kollaborative Regionaldateninfrastruktur zu schaffen, das heißt den Austausch der Regionaldaten zu fördern. Hartmut Gündra (Clustermanager GeoNet.MRN e.V.) und ich sind uns einig, dass es große Überschneidungen zwischen unseren beiden Zugängen gibt. Die Zusammenarbeit läuft sehr gut: GeoNet.MRN ist der Industrial Dataspace Association der Fraunhofer Institute beigetreten und auch auf Seite von Fraunhofer wird das Thema des Urban Data Space zur Kenntnis genommen. Man kam dort zu dem Schluss, dass das Konzept des Industrial Data Space ebenso auf andere gesellschaftliche Teilbereiche übertragbar ist: Man redet jetzt bei Fraunhofer auch von einem Medical Data Space oder von einer Logistik 4.0 auf Basis des Industrial Data Space. Letztlich wird das Konzept irgendwann einmal nur noch Data Space heißen und den Austausch zwischen all diesen Sektoren ermöglichen.

ZV: Wie bewerten Sie grundsätzlich das Verhältnis von Politik, Gesellschaft und Digitalisierung?

SF: Sicherlich zeichnen sich Vorteile der Digitalisierung ab: Als Elternteil kann man sofort sehen, wo Kindergartenplätze frei sind, digitalisierte Verwaltungsprozesse können das Leben einfacher machen, die Transparenz von Verwaltungsentscheidungen kann sich erhöhen, Bürgerbeteiligungen können erleichtert werden. Wichtig ist aber: Das sind nur Versprechen und Möglichkeiten, die Digitalisierung bringt das nicht von sich aus. Es stellt sich die Aufgabe, die Prozesse so auszugestalten, dass diese Versprechen auch wirklich eingelöst werden. Die Digitalisierung ist kein Heilsversprechen, sie ist nur eine Technik, die in den Anwendungsfällen erst ihren Benefit generiert. Man muss also die Anwendungsfälle anschauen und sie demokratisch und transparent gestalten.

ZV: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Stephan Frenzel

Geschäftsführer

KYBEIDOS

Gesellschaft für Systeme zur Unternehmenssteuerung mbH

Heinrich-Fuchs-Straße 94

69126 Heidelberg

http://www.kybeidos.de

Stephan.Frenzel@kybeidos.de

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