Die Textur erspüren

Foto: Julian Beekmann

Der Werkstoff Holz fasziniert nicht nur Handwerker. Auch Künstler werden durch seine Materialeigenschaften inspiriert. Zeitenvogel sprach mit Michael Lerche über den Wald als besonderen Ort, den Gegensatz von Produktdesign und Kunst sowie die Möglichkeiten ein Unternehmen in der Kunst abzubilden.

ZV: Herr Lerche, inwieweit ist für Sie die Ästhetik des Vergänglichen eine Quelle der Inspiration?

ML: Für mich ist die Vergänglichkeit, die wir in der Natur vorfinden, besonders reizvoll: Blumen und Blüten im Stadium des Vergehens, alte abgeblätterte Hauswände, an denen man die verschiedenen Schichten der Farben studieren kann sowie Holzobjekte, die verschiedenen Insekten als Lebensraum gedient haben.

ZV: Gerade die hölzernen Fundstücke spielen als materielles Substrat Ihrer Arbeiten eine große Rolle. Welche Bedeutung hat für Sie der Ort Wald?

Foto: Michael Lerche

ML: Der Wald ist ein wunderbarer Ort der Entspannung. Die eigene Wahrnehmung verändert sich. Im Wald wird man vom Getriebenen zum Suchenden. Mit der bewussten Suche wandelt sich der Blick auf die Dinge. Wenn ich etwas gefunden habe, muss ich mich bewusst entscheiden, was ich mitnehme oder wieder zur Seite lege. Bei diesem Entscheidungsvorgang entwickele ich eine Vision, wie das Gefundene, farblich gestaltet und mit anderen Materialien bearbeitet, aussehen könnte.

ZV: Was fasziniert Sie am Material Holz?

ML: Holz ist ein natürlicher Werkstoff. Ich bin ausgebildeter Maschinenschlosser und dort war ich stets mit Ölen in Kontakt, die unangenehm stark rochen. Holz hingegen riecht angenehm bei der Bearbeitung. Es lässt sich auch sehr gut mit einfachen Mitteln gestalten und mit anderen Materialien kombinieren. Im Holz steckt eine ganze Menge Energie, die auch auf den Betrachter überspringt.

ZV: Wie bearbeiten Sie Ihre Fundstücke?

ML: Das Ziel meiner farblichen Bearbeitung ist es, die Oberflächentextur herauszuarbeiten. Hierzu gebrauche ich eine reduzierte Farbpalette: Schwarz, Weiß und Grautöne wirken auf den Hölzern sehr edel und wohltuend. Sie stehen im Gegensatz zu unserer lauten und bunten Umwelt. Hinzu treten hochwertige Materialen wie Silber- und Kupferdraht.

Foto: Michael Lerche

Zugleich sollen meine Werke aber auch mit kleinen, dezenten Hinweisen zum Ausdruck bringen, wie der Mensch in die Natur eingreift und wer in diesem Ringen als Sieger hervorgeht. In einem meiner Objekte, einem ausgehöhlten Baumstamm, befindet sich zum Beispiel ein Herrschaftsstab aus Kupferdraht In einem anderen Fall werden durch den natürlichen Zerfall gespaltene Hölzer mittels filigranen Drahtes wieder zusammengehalten.

Foto: Michael Lerche

Darum geht es mir: Die Fundstücke werden durch die künstlerische Bearbeitung aus dem Zustand des Zerfalls geholt und zu einem ästhetischen Kunstwerk in einem neuen Umfeld transformiert.

Foto: Michael Lerche

ZV: Welche Bedeutung hat die Textur der Oberfläche für Ihre Malerei?

ML: Von der künstlerischen Ausbildung her komme ich aus dem Produktdesign und gestaltete jahrelang Möbel. Benutzer und Möbel kommen über die Oberfläche erstmals in Kontakt. Ich fasse den Tisch an und frage mich: Wie fühlt er sich an? Wie sind die Kanten? Warm? Kalt? Glatt? Rau? Diese Dreidimensionalität der Texturen und der Materialeigenschaften faszinieren mich. Deshalb male ich wahrscheinlich selten auf glatten Untergründen. Ich verwende nicht nur Acrylfarben, sondern experimentiere gerne auch mit anderen Materialien und Arten des Untergrunds.

In einer meiner neuen Serien „Im Garten der Sonja Maria K.“ habe ich durch diese Experimente spannende Ergebnisse erzielt und für mich eine neue Art des künstlerischen Ausdrucks gefunden. Alles entstand intuitiv in einem Zug, jedes Werk ist ein Unikat, das sich nicht reproduzieren lässt und mit dem Thema Zufälligkeit spielt. Da ist dann doch die Spannung zu meiner Tätigkeit als Produktdesigner erkennbar: Planung und Reproduzierbarkeit sind bei Industrieprodukten Grundvoraussetzungen, in meiner künstlerischen Tätigkeit aber nicht gewollt.

Foto: Michael Lerche

ZV: Lässt sich ein Unternehmen künstlerisch abbilden?

ML: Da bin ich mir ziemlich sicher. Als Produktdesigner bin ich es gewohnt, mich auf unterschiedliche Unternehmen, die von ihnen gebrauchten Materialien, hergestellten Produkte und Geschäftsprozesse einzulassen. Hier können mir die jeweils verarbeiteten Materialien und die Prozesse des Unternehmens als Inspirationsquelle dienen. Das müssen nicht nur Holz oder Metall sein, das können auch nichtgegenständliche Ideen oder Dienstleistungen sein, die die Unternehmen anbieten. Dem taktil nicht Erfassbaren gebe ich skulpturale oder bildnerische Form. Kunst hat in diesem Zusammenhang eine Vermittlerfunktion zwischen Unternehmen, Kunde und Künstler und wird so aus der elitären Ecke geholt.

ZV: Eines der Bilder, das mich hier in Ihrem Atelier am meisten beeindruckt, trägt den Titel „Überall suchen Mütter nach ihren verschwundenen Söhnen“.

Foto: Michael Lerche

ML: Auslöser für dieses Bild war ein trauriges Ereignis, das im September 2014 stattfand: Damals verschwanden über 40 Studenten aus Ayotzinapa spurlos. Sie sind bis heute nicht mehr aufgetaucht und wurden wohl ermordet. Diese Nachricht hat mich damals sehr bewegt. Die Studenten stehen exemplarisch für viele andere junge Männer, die irgendwo verschwinden, in Kerkern landen, gefoltert und umgebracht werden.

Auf diesem Bild ist ein oben geöffnetes Quadrat zu sehen, das nur ganz schemenhaft angedeutet ist. Es soll einen Raum darstellen, in den immer wieder neue junge Männer hineingebracht werden. Es wird wohl kein Ende nehmen.

ZV: Also ist die Kunst weiterhin eine „Vermittlerin des Unaussprechlichen“?

ML: Ja, sicher. Das ist für mich ein wichtiger Aspekt der Kunst. Viele meiner Bilder nehmen gesellschaftliche Entwicklungen auf. „Flüchtige Liebe“ thematisiert zum Beispiel die abnehmende Kraft dauerhafter Bindungen in der heutigen Zeit, sei es zwischen Staaten, sei es zwischen Menschen, zwischen Mann und Frau, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer: Der Mensch ist das höchste Gut, aber wenn er nicht mehr gebraucht wird, soll er rasch gehen. Entscheidungen, Verträge und Versprechen werden schnell umgeworfen, alles ist flüchtiger geworden, man kann sich auf nichts mehr verlassen, nichts mehr ist sicher. Das ist eine dramatische Entwicklung.

Foto: Michael Lerche

In meinem „Lebenszyklus“ habe ich hingegen in vier Bildern dargestellt, wie sich das Leben entwickeln kann – vom behüteten und beschützten Zustand, über Brüche, die sich im Leben ergeben, bis zu einem zufriedenen und glücklichen Ende, an dem man in sich selbst ruhend auf ein tragfähiges Netzwerk von Beziehungen und Freundschaften zurückblicken kann.

ZV: Vielen Dank für das Gespräch.

Michael Lerche

Kultur-und Kreativwirtschaftszentrum
Dezernat 16
Emil-Maier-Str.16
69115 Heidelberg

www.michael-lerche.de

art@michael-lerche.de

Beitragsbild: Michael Lerche