Regionen verbinden

Foto: Werner Schreiner

Der europäische Binnenmarkt ist mit dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen eine der tragenden Säulen der europäischen Einigung. Ohne den reibungslosen Güteraustausch auf Schiene und Wasser wäre dieser Wirtschaftsraum nicht denkbar. Zeitenvogel sprach mit Werner Schreiner (Beauftragter der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Präsident der Oberrheinkonferenz 2018) über die Herausforderungen des Güterverkehrs auf Schiene und Rhein, die europäische Einigung auf Ebene der Regionen und den VRN im Zeitalter der Digitalisierung.

ZV: Herr Schreiner, was passierte bei der Rastatter Havarie im August 2017?

WS: Der genaue Ablauf des Geschehens ist noch nicht abschließend geklärt. Vermutlich aufgrund eines Fehlers in einem neuen Tunnelbauverfahren sackte das Gelände über dem Tunnel ab. Dadurch war die Nord-Süd-Achse des deutschen Schienenverkehrs komplett blockiert. Noch heute fährt man an dieser Stelle etwas langsamer. Insgesamt ist die Schienenstrecke aber wieder nutzbar.

ZV: Weshalb konnte die Unterbrechung von nur zwei Schienensträngen den Güterverkehr in Nord-Süd-Richtung faktisch zum Erliegen bringen?

WS: Hier kommen zahlreiche Faktoren ins Spiel. Anstatt sich anzugleichen, haben sich die Eisenbahnen Europas auseinanderentwickelt: Jede Bahn hat ihr eigenes Sicherungssystem und ihre eigenen Regularien. Man kann also nicht problemlos Züge vom rechtsrheinischen in den linksrheinischen Bereich umleiten. Die Fahrzeuge müssen für die Sicherheitssysteme des jeweiligen benachbarten Landes geeignet sein. Auch müssen die Lokführer die Sprache des Nachbarn zumindest soweit beherrschen, dass sie sich dienstlich verständlich machen können. Ich habe deshalb beim EBA (Eisenbahn-Bundesamt) angefragt, welche Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den französischen Nachbarn geplant sind, um bei einem ähnlichen Fall in Zukunft den Stillstand im Bahnverkehr zu verhindern.

ZV: Die europäische Einigung führte oft zu einer Angleichung der staatlichen Regulierungen. Weshalb entwickelte sich gerade der Bahnverkehr auseinander?

WS: Das liegt vor allem daran, dass die einzelnen Staaten in den Nachkriegsjahren eigene Teillösungen in der Eisenbahntechnik gewählt haben. So wurde der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr ausgebremst. Als Historiker untersuchte ich alte Eisenbahnverträge von 1840 und 1850. Damals war die europäische Idee im Eisenbahnwesen weiter verbreitet als heute.

ZV: Weshalb ist das deutsche Teilstück der Nord-Süd-Achse nicht so gut ausgebaut wie das schweizerische Teilstück?

WS: Das liegt weniger an den Bahnverwaltungen als an der Politik der bisherigen Regierungen. Von Regierungsseite wurde über Jahre zu wenig Geld bereitgestellt, um das Projekt voranzubringen. Ich habe in meinem Archiv einen schönen Bericht aus dem Jahr 1983, in dem der Präsident der Bundesbahndirektion Karlsruhe ankündigte, dass bis Mitte der 1990er Jahre die Rheinstrecke bis nach Basel ausgebaut sein soll. Heute gehen wir diesbezüglich vom Jahr 2045 aus.

ZV: Weshalb wurde dieses Projekt nicht mit größerem Elan verfolgt?

WS: Ich glaube, dass sich alle bisherigen deutschen Regierungen schwertaten, die Prioritäten der Eisenbahn richtig einzuschätzen. Vielleicht hat man auch aus Rücksichtnahme gegenüber der Autoindustrie erst einmal „asphaltiert“ und parallelen Notwendigkeiten und Initiativen nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt muss man – ähnlich wie beim Dieselskandal – mit den Folgen umgehen. Es gibt bei den Bahnlinien noch viel Rückstand aufzuholen.

ZV: In den nächsten Jahren rechnet man mit einer starken Zunahme des Güterverkehrs. Welche Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach notwendig, um mehr Güter auf die Schiene zu bringen ohne das System zu überlasten?

WS: Es ist immer eine Definitionssache, wann man die Überlastung eines Systems ansetzt. Vor einigen Jahren fragte ich einen DB-Vorstand, weshalb es in der Schweiz möglich ist, quasi im Zwei-Minuten-Takt in den Luzerner Kopfbahnhof einzufahren, während es in vergleichbaren Situationen in Deutschland riesige Zeitabstände zwischen einfahrenden Zügen gibt. Er erläuterte mir im Gespräch, dass die unterschiedlichen Geschwindigkeiten auch durch den Ausbau der Infrastruktur – insbesondere die Abstände der Signale – beeinflusst werden. Auf der bestehenden Infrastruktur könnten noch mehr Züge fahren, wenn Blockabstände verringert und zusätzliche Signale gebaut würden. Allerdings muss man sich auch um eine Fortentwicklung der Technik kümmern. Da liegt manches im Argen – die Zahl der technischen Störungen ist im DB-Netz noch immer sehr hoch.

ZV: Halten Sie die Mittel für ausreichend, die in den nächsten Jahren für den Ausbau des Bahnverkehrs eingeplant werden?

WS: Das kann man als Außenstehender nur sehr schwer beurteilen. Ich weiß zum Beispiel aus dem Wirkungsbereich des GVFG (ehem. Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz), dass vom Bund zur Verfügung gestellte Mittel oft nicht umfassend abgerufen wurden, weil die entsprechende kommunale Komplementärfinanzierung fehlte. Darüber hinaus kam es in den vergangenen Jahren zu einem horrenden Anstieg bei den Baupreisen. Die gesetzlichen Verfahren zur Erweiterung von Bahnstrecken und Bahnanlagen sind sehr streng reglementiert. Es ist nie genau abzusehen, wie schnell ein solcher Ausbau möglich ist.

Ein Beispiel: Ich betreue im Moment noch die Entwicklung der S-Bahn-Strecke von Homburg nach Zweibrücken. Wir benötigen allein ein Jahr für das Scoping, das heißt, wir müssen herausfinden, welche Tiere und Pflanzen sich in den vier Jahreszeiten dort auf der zu reaktivierenden Strecke zu finden sind um die gesetzlichen Vorgaben zu beachten. Dann müssen wir ein Lärmgutachten anfertigen. Und wenn wir schließlich nach zwei Jahren vielleicht in die Planfeststellung gehen, wissen wir immer noch nicht, wer warum prozessiert und welche Planänderungen noch erforderlich sein werden. Das bringt auch Schwierigkeiten bei der Ausschreibung der Bautätigkeiten mit sich. Diese Prozesse kann man mittlerweile daher nur noch sehr schwer vorausplanen.

ZV: Für eine stärkere Auslastung des Güterverkehrs sind ja aber nicht nur Strecken, sondern auch Terminals notwendig. In den letzten 10 bis 20 Jahren wurden aber viele der Güterbahnhöfe geschlossen und die Gelände in Wohngebiete umgewandelt.

WS: Es gibt ein paar weitere Hemmschuhe. So versuchte die DB Cargo in den letzten Jahren, verstärkt zum Ganzzugverkehr überzugehen. Sie hatte keine lokalen Bieter gefunden, die auch die „letzte Meile“ zu den jeweiligen Unternehmen bedienen wollten. Die DB Cargo hat für diesen Zweck nun wieder selbst eine Lokomotive entwickeln lassen, die die letzte Meile auch ohne Oberleitung fahren kann.

Allerdings hilft das beste Gleisanschlussförderprogramm nicht, wenn Industriebetriebe auf den sprichwörtlichen rumänischen Subunternehmer setzen, der seinen LKW für 2,30 Euro pro Stunde fährt. Gegenüber solchen Preisen ist der Bahnverkehr chancenlos.

ZV: Eine andere Möglichkeit, den Güterverkehr in Nord-Süd-Richtung zu steigern, ist die Rheinschifffahrt. Inwieweit kann die Rheinschifffahrt sogar als Keimzelle der europäischen Einigung gelten?

WS: Seit mehr als 100 Jahren gibt es mit der Mannheimer Akte einen Vertrag, der die Schifffahrt auf dem Rhein regelt. Die Stapelrechte sind ebenso weggefallen wie Lager- und Zollauflagen. Rechtlich ist die Rheinschifffahrt also frei, allerdings leidet sie heute oft unter Niedrigwasser. An vielen Stellen kann die Schifffahrt aber mit dem Schienengüterverkehr verzahnt werden. So hat der Straßburger Rheinhafen (PAS) den Hafen von Lauterbourg übernommen und gerade mit zwei 600 Meter langen Gleisen zur Containerverladung ausgerüstet.

Ab Lauterbourg ist die Wasserführung im Dritten der drei Rheinabschnitte sehr unterschiedlich, da helfen auch die Staustufen nicht immer. Im Fall der Fälle kann man so auch die Güter auf die Schiene verladen. Und auch im Voraus können Güter entsprechend der Möglichkeiten des jeweiligen Verkehrsmittels verladen werden: Mit der Schifffahrt sollten nicht zeitgebundene Güter verschifft werden, während die Bahn – trotz aller Probleme der Fahrpläne im Güterverkehr – zeitgebundene Güter doch relativ pünktlich liefern kann.

ZV: Werfen wir noch einen Blick auf die Kooperationen der Rheinanlieger. Sie sind ja in diesem Jahr Präsident der Oberrheinkonferenz. Funktioniert die Zusammenarbeit im Bereich der Rheinschifffahrt besser als die Zusammenarbeit im Eisenbahnverkehr?

WS: Das würde ich so nicht unterschreiben. Seit 2004 bin ich Vorsitzender des Expertenausschusses Grenzüberschreitender Personenverkehr der Oberrheinkonferenz. Meines Erachtens hat sich die Kooperation in den letzten Jahren ganz gut entwickelt. Zurzeit initiieren wir gemeinsame Programme für die Leistungen, die in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ausgeschrieben werden, um gemeinsam mit der Region Grand Est grenzüberschreitende Verbindungen mit durchgehenden Zügen auszustatten. Diese Arbeiten brauchen – wie immer bei der Fahrzeugbeschaffung – einen gewissen Vorlauf.

Im Nord- und im Südelsass gibt es Anregungen, Strecken über den Rhein zu reaktivieren um die regionale Mobilität zu verbessern und die beiden Schienenachsen rechts und links des Rheins stärker miteinander zu vernetzen.

ZV: Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass das Verhältnis vieler Deutscher zu anderen Nachbarn in Europa enger ist als das zu Frankreich. Woran könnte das liegen?

WS: Zum einen ist Frankreich ein Zentralstaat und Deutschland ein Föderalstaat. Zum anderen muss man noch immer die Nachwirkungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs bedenken. Insgesamt kann ich diesen Eindruck aber nicht bestätigen. Ich verbringe dienstlich viel Zeit im Elsass und in Lothringen, aber auch in Luxemburg und in Belgien. Da hat sich ein sehr gutes und vertrauensvolles Verhältnis entwickelt.

ZV: Vor kurzem erreichten uns die Nachrichten aus Frankreich, dass die SNCF Nebenstrecken stilllegen wolle. Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Bestrebungen zur Reform des Bahnsektors in Frankreich?

WS: Präsident Macron und seine Minister sind fest entschlossen, die Bahn schrittweise in eine privatrechtliche Form zu überführen um wirtschaftlichere Ergebnisse zu erzielen. Ich denke, dass Frankreich auf einem guten Weg ist, allerdings ist die Sozialpartnerschaft nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Die Pläne für Streckenstillegungen in Frankreich wurden vom Premierminister rasch kassiert. In Deutschland hatte die DB einst, kurz vor der deutschen Bahnreform, einen ganz ähnlichen „Anfall“ Streckenstilllegungen umzusetzen. Die damaligen Gutachter kamen wie der heutige französische Gutachter wohl auch aus der Luftfahrtbranche. Deutschland und Frankreich machen also fast haargenau die gleichen Erfahrungen.

Allerdings gibt es durch die frühe Bahnreform in Deutschland im Schienenverkehrssektor eine 20-jährige Phasenverschiebung zwischen beiden Ländern. Wir können deshalb unser Wissen an unsere französischen Kollegen weitergeben, um ihnen einige der Fehler zu ersparen, die wir gemacht haben.

Ich plädiere aus unseren Erfahrungen nachdrücklich dafür, die Umgestaltung der Bahnorganisation schrittweise durchzuführen und auch die Mitarbeiter miteinzubeziehen. Das gibt Planungssicherheit. Wenn die Arbeitnehmer ihre Perspektiven klar kennen, sind sie beruhigter und es gibt keine Notwendigkeit für Streiks.

ZV: Wir sind ja hier auch in den Räumlichkeiten des VRN (Verkehrsverbund Rhein-Neckar). Was sind wichtige Vorhaben des VRN in den nächsten Jahren?

WS: Der VRN wird zum einen die S-Bahn Rhein-Neckar weiterentwickeln. Zum anderen beschäftigt  sich der VRN intensiv mit digital vernetzter Mobilität, so auch mit verbesserter Kundeninformation in Echtzeit. Gerade in den letzten Wochen haben wir in diesem Bereich einiges auf den Weg gebracht. Gemeinsam mit dem KVV (Karlsruher Verkehrsverbund) haben wurde das ticket2go entwickelt, auch das Elsass soll hier mittelfristig eingebunden werden. Ich hoffe, dass wir bis zum Verkehrskongress der Oberrheinkonferenz Mitte Oktober noch einige weitere Projekte mit unseren Nachbarn initiieren können.

ZV: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Werner Schreiner

Beauftragter der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz für grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Präsident der Oberrheinkonferenz 2018

Staatskanzlei

Peter-Altmeier-Allee 1

55116 Mainz

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werner.schreiner@stk.rlp.de

Beitragsbild: Werner Schreiner