Geteiltes Lesen und eine Räterepublik

Die Idee

Die Idee des „geteilten Lesens“ (Shared Reading®) stammt ursprünglich aus Liverpool. Ohne festes Schema trifft sich ein Kreis aus regelmäßig teilnehmenden und spontan hinzustoßenden Lesewilligen. Ein sogenannter Facilitator moderiert die Sitzungen. Circa 90 Minuten lesen die Mitglieder dieser Gemeinschaft laut und gemeinsam ein Gedicht, eine kurze Geschichte oder auch Teile eines Romans, äußern ihre Gedanken, diskutieren. Das Ziel ist es, miteinander zu reden, sich zuzuhören.

Literatur für jeden

Carsten Sommerfeldt und Thomas Böhm verfolgen das Unternehmen, auch in Deutschland „Literatur für jeden” zugänglich zu machen. Nach Berlin und Frankfurt sollen nun in Heidelberg Begegnungsorte entstehen, an denen Menschen über Literatur miteinander ins Gespräch kommen. Das Kulturhaus Karlstorbahnhof hatte aus diesem Anlass Carsten Sommerfeld eingeladen, in der Heidelberger Stadtbücherei zusammen mit dem Redakteur Volker Weidermann und dem Journalisten Markus Clauer über diese „neue Art des Lesens“ zu diskutieren.

Weite Bildung

Sommerfeldt hob den metaphorischen Gehalt der Veranstaltungsstätte Stadtbücherei hervor: In Zeiten der Digitalisierung wandelten sich Bibliotheken von Orten des Ausleihens zu Orten des Austausches. Der persönlichen Begegnung von Menschen werde auch weiterhin große Bedeutung zukommen. Shared Reading® könne hier einen Bildungsauftrag in einem sehr weiten Sinne erfüllen: Von der Vermittlung des Wissens, wie vielschichtig Literatur ist, bis zur Bereicherung, sich selbst in einer gemeinsam erlebten Literaturerfahrung neu zu ergründen. So könne bei den Teilnehmenden eine Haltung der sozialen Offenheit und Zugewandtheit gefördert werden.

Auch für Volker Weidermann, der bereits selbst Erfahrungen mit dem Konzept sammelte, stellt Shared Reading® eine neue Form des Lesens dar, eine andere Art über Bücher zu sprechen. Er bekräftigte: Im Gegensatz zur traditionellen Lektüre komme der Lesende ins Gespräch mit anderen, aber auch ins Gespräch mit sich selbst.

Dichter an der Macht

Im Anschluss verspürte man direkt Lust, das Konzept zu erproben. Weidermann las aus seinem neuen Buch „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“. Er lieferte faszinierende Einblicke in die rasende Reise der Münchner Räterepublik aus der Utopie des Aufbruchs in die brutale Wirklichkeit mörderischer Kämpfe. Wie bereits in Weidermanns letztem Roman “Ostende” trifft man auch hier wieder auf alte Bekannte der deutschen Literaturgeschichte. Der Leser begleitet Thomas und Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam, Oskar Maria Graf, Viktor Klemperer und viele andere mehr durch die Zeit vom November 1918 bis zum April 1919. Ein knappes halbes Jahr, das in der Dramatik der Ereignisse und der Atemlosigkeit der Protagonisten ein ganzes Jahrhundert zu verdichten scheint.